„Wie eingelegte Gurken“ – Erinnerungen aus dem Einmachglas

Julia Rössing

Um unserem Vorhaben, der Erstellung von einem Visual zum Thema Nostalgie der Russlanddeutschen ein Stück näher zu kommen, waren wir beim Hamburger Verein der Deutschen aus Russland e.V. zu Besuch. Dabei lernten wir nicht nur einiges über die Geschichte der Russlanddeutschen aus erster Hand, sondern auch viel darüber, wie Erinnerung funktioniert.

Der erste persönliche Kontakt unserer Recherche für das Projekt führte uns zum Hamburger Verein der Deutschen aus Russland e.V.1. Per E-Mail nahmen wir Kontakt zu der Vorsitzenden des Vereins, Valentina Wassiljew, auf und vereinbarten einen Termin. 

Das Treffen fand im Vereinsbüro in der Hamburger Neustadt statt. Schon der erste optische Eindruck des Büros lieferte uns  interessante Erkenntnisse. Da wir uns ja mit dem Thema Nostalgie beschäftigen wollen, war es spannend zu sehen, wie die Mitglieder des Vereins der Deutschen aus Russland ihren Wirkungsraum gestalten. Das Büro war mit vielen Informationsmaterialien ausgestattet. Auch Wandkarten, die zum Beispiel Migrationswege der Russlanddeutschen zeigten,  sowie Fotocollagen von Vereinsfeiern und besonderen Anlässen hatten ihren Platz.  

Frau Wassiljew begrüßte uns sehr herzlich und begann ihre Erzählung mit einem kurzen historischen Abriss der Geschichte der Russlanddeutschen. Zusätzlich ging sie sehr intensiv auf ihre eigene Familiengeschichte ein und erzählte, wie sie und ihre Vorfahren das Leben als Russlanddeutsche in Russland erlebt hatten. Sie selbst war als Kind oft mit Diskriminierung und Ausgrenzung konfrontiert worden. In der Schule bezeichneten die MitschülerInnen sie als „faschistisches Schwein“ und zerstörten ihre Schulunterlagen. Während Valentina Wassiljews Kindheit war es Russlanddeutschen in Russland verboten, die deutsche Sprache zu sprechen, deutsche Feiertage zu begehen und sogar das Studium an der Universität wurde ihnen verwehrt. Sie betonte in unserem Gespräch oft, wie dankbar sie nun ist, diese Zeiten hinter sich zu haben und ihre Identität und Religion frei ausleben zu können.

Der Hamburger Verein der Deutschen aus Russland wurde von Gottlieb Krone gegründet und hatte, besonders in der Phase, in der viele AussiedlerInnen nach Deutschland kamen, das Ziel, diese Menschen zu unterstützen und ihnen bei Behördengängen und anderen bürokratischen Hürden kostenlos zu helfen. Heute geht es hauptsächlich darum, die eigene Identität zu wahren und die Gemeinschaft zu pflegen.

Organisiert werden momentan acht Gesprächskreise für SeniorInnen, in denen sich die Mitglieder regelmäßig zu allen möglichen Themen austauschen können. Außerdem gibt es Chöre und Tanzgruppen, die sowohl traditionell deutsche als auch russische Lieder und Tänze praktizieren.  Wichtige Anlässe für den Verein sind der 28. August, der Jahrestag der Anordnung der Deportation der Russlanddeutschen 1941, und der Weltfrauentag am 08. März. An diesen Tagen soll an die Geschichte der Russlanddeutschen erinnert und auch die jetzige Gemeinschaft in Deutschland gestärkt werden. 

Als wichtiges Ereignis in der aktuelleren Geschichte des 2000 gegründeten Vereins nannte Frau Wassiljew die Veranstaltung Heimat im Herzen, Heimat in Deutschland im Juni 2019, in der Horst Seehofer als Vertreter des Bundesministeriums des Inneren, für Bau und Heimat den Russlanddeutschen in einer Rede die deutsche Identität zugesprochen hat.2 Im Büro hängen Fotos dieser Veranstaltung und Frau Wassiljew berichtete über die Freudentränen der ältesten Vereinsmitglieder, die sich nach ihrer Aussage niemals erträumt hätten, irgendwann mal als „vollwertige“ deutsche BürgerInnen angesehen zu werden. Es ist für uns sehr lange her, den Namen von Horst Seehofer in so einem positiven Zusammenhang gehört zu haben.

Zum Abschluss erzählte Valentina Wassiljew die Geschichte ihrer eigenen Migration nach Deutschland 2005. Sie selbst hatte zuvor noch nie dort gelebt und kannte nur die nostalgischen Erzählungen ihrer Familienmitglieder. „Ihre Erinnerungen waren wie eingelegte Gurken“ sagte Frau Wassiljew und lachte. Ihre Vorfahren verfügten über Erinnerungen an ein längst vergangenes Deutschland und trugen diese weiter an die nächste Generation. So entstand innerhalb ihrer Familie ein nostalgisches Bild von Deutschland. Heimlich wurden alte deutsche Volkslieder gesungen und Feste gefeiert.

Der Alltag der Familie ist geprägt von der zwiegespaltenen Identität, wie sie viele Russlanddeutsche immer noch erleben. Auffallend ist, dass Valentina Wassiljews Geschichte sehr stark von Selbstbehauptung und Identität geprägt ist. Sie schloss das Treffen damit ab, dass sie sich selber als deutsche Bürgerin wahrnimmt. Und dennoch soll die Geschichte der Russlanddeutschen nicht in Vergessenheit geraten. Als Anhaltspunkt für unser Vorhaben, eine Bildstrecke auf dekoder.org zu konzipieren, gab Frau Wassiljew uns noch einen Fotokalender von 2010 mit, welcher sowohl auf Deutsch als auch auf Russisch gestaltet wurde und klassische, ikonographische Bildmotive enthält. Außerdem werden wir weiteres Fotomaterial des Vereins sichten und gegebenenfalls für unsere Bildstrecke in Betracht ziehen. 


1 Vgl. Homepage des Vereins: http://www.hvdar.de, Abrufdatum 07.12.2019.

2 Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat: Heimat im Herzen, Heimat in Deutschland. Pressemitteilung vom 04.06.2019. Online unter: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2019/06/heimat-im-herzen.html, Abrufdatum 07.12.2019.

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