Jakob Koppermann
Dieser Debattenbeitrag, am 7. Februar in der Pravda abgedruckt, fällt nicht in unseren Untersuchungszeitraum, ist aber zu schön, um ihn nicht zu erwähnen:
„Ist es denn kein Fehler, die totale Demokratisierung der Gesellschaft zu verkünden und dabei die andere Seite der Medaille zu vergessen – nämlich die Lenkung der Disziplin und Ordnung im Land? Jedem, der auch nur ein klein wenig mit Theorie und Politik vertraut ist, ist klar, dass die Disziplin auch ohne Demokratie überlebt, die Demokratie jedoch ohne Disziplin undenkbar ist, weil sie sich sonst unweigerlich in ein gesellschaftspolitisches Chaos verwandelt bzw. als solches wiedergeboren wird.“
Vladimir I. Brovikov ist Mitglied des ZK der KPdSU und Botschafter in Polen. Auf einem Plenum der KPdSU zur Vorbereitung des 28. Parteitages, bei dem Gorbatschow die Eröffnungsrede hielt, protestierte er gegen angestrebte Reformen. Es wurde vorgeschlagen, die zentrale Rolle der KP für den Staat abzuschaffen, um Ideen und Kräfte der Bevölkerung freizusetzen. Brovikov allerdings scheint zu glauben, dass sich alle vor allem mal zusammenreißen müssten, um der wirtschaftlichen Misere zu entkommen. Er steht damit beispielhaft für reformunwillige Kader. Das mag allerdings auch eine Perspektive der Sieger der Geschichte sein, denn die Furcht vor Chaos durch zu weit gehende Reformen war nicht nur in der Sowjetunion verbreitet.
Quelle:
Karner, Stefan et al.: Der Kreml und die deutsche Wiedervereinigung 1990. Interne Sowjetische Analysen. Kriegsfolgen-Forschung. Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Sonderband 16. Berlin 2015.