Im Auge der Betrachtenden

Lisa Hellriegel

Was passiert, wenn ich 2020 eine Fotografie aus dem Jahr 2012 anschaue, die mit Materialien und einem Verfahren aus dem 19. Jahrhundert aufgenommen wurde? Und wenn nun das Motiv der Fotografie aus dem selben Zeitraum wie die Fototechnik stammt, aber 2012 schon wieder ganz anders aussieht? Und was heißt all das für die historische Analyse visueller Quellen? Im folgenden Blogpost habe ich versucht, diese Zeitschichten einmal freizulegen.

Wie hier bereits berichtet, haben wir uns nach einigem Hin und Her für die Fotografien von Artjom Uffelmann entschieden. Diese sind mit der Methode der Ambrotypie, einem Verfahren aus dem 19. Jahrhundert, aufgenommen – eben aus der Zeit, in der die deutschen Kirchen an der Wolga gebaut wurden.

Wie Uffelmann 2014 in einem Interview mit der russlanddeutschen Zeitschrift Volk auf dem Weg erklärte, wollte er „die materielle Geschichte [s]einer Vorfahren, oder eher gesagt, was davon übrig geblieben ist, durch ein altes Objektiv betrachten und so auch die richtige Tuchfühlung zur damaligen Zeit herstellen […]“. 1  Als angehende Historikerin frage ich mich natürlich zuerst, worin diese „richtige Tuchfühlung“ denn eigentlich bestehen könnte. Denn ein historischer Moment ist – meiner Ansicht nach – nicht wieder erlebbar und auch nicht durch ein gekonntes Nachspielen erlebbar zu machen.

Alte Objektive und neue Sehgewohnheiten

Dennoch steckt in diesem kurzen Zitat ein wesentliches Element der Fotografien von Uffelmann: nämlich die vielen Zeitschichten, die seinen Bildern innewohnen. Wie er in dem Zitat durch die Erwähnung dessen, „was davon übrig“ sei, anspricht, befanden sich die Kirchen im Jahr 2012, als er die Aufnahmen machte, in verschiedenen Stadien des Verfallens. Betrachtet man seine Fotografien, blickt man also „durch ein altes Objektiv“ aus der Bauzeit der Kirchen auf deren verfallenden Zustand im Jahr 2012. Dazu kommt noch die besonders lange Zeit der Vorbereitung und Durchführung, die die Ambrotypie mit sich bringt: Artjom Uffelmann erzählte uns, er habe meist eine Woche an der Entstehung eines Foto gearbeitet – angesichts der Schnelligkeit omnipräsenter Smartphonefotografie heute kaum noch vorstellbar.

Gerade letztere hat, so würde ich argumentieren, auch unsere Sehgewohnheiten verändert. Darin zeigt sich eine weitere Zeitschicht: Der Blick der Betrachtenden ist 2020 auf eine ganz andere Art an Instagram- und Snapchatfilter gewöhnt als 2012. So braucht es mittlerweile einiges Hintergrundwissen zur Ambrotypie, um die reduzierte Schwarz-Weiß-Ästhetik, die sie ausmacht, nicht nur als besonders raffinierten Filter wahrzunehmen. Es waren eben die 2010er Jahre, in denen sich Fotobearbeitung durch Social Media auch unter AmateurInnen besonders verbreitete. 2  Das betrifft natürlich vor allem die jüngeren Generation, doch die Ausbreitung sozialer Medien lässt sich in verschiedenem Ausmaß auch in anderen Generationen feststellen.

Letztere Überlegungen sind allerdings keinesfalls wertend im Sinne einer Kulturkritik zu verstehen – ob ein mit digitalem Filter aufgenommenes Bild einen anderen künstlerischen Wert hat als ein „durch ein altes Objektiv“ gesehenes, will und kann ich hier nicht diskutieren. Stattdessen sollte gezeigt werden, wie viele Zeitschichten in einer Fotografie stecken können und dass dieser Aspekt für die Interpretation von Bildern als historischer Quelle nicht unterschätzt werden sollte. Gerade für Letzteres gilt auch zu bedenken, dass diese Zeitschichten sich mit dem zeitlich fortschreitenden Blick der Betrachtenden weiter wandeln.

1 “Vergessene Zivilisation” an der Wolga. Artjom Uffelmann – mit der Fotokamera auf der Spur seiner Vorfahren, in: Volk auf dem Weg 1 (2014), S. 32f (Interviewerin: Nadja Runde).

2 Instagram wurde 2010 für iOS, 2012 auch für Android-Smartphones auf den Markt gebracht. (Siehe: https://instagram-press.com/our-story/, Abrufdatum 20.01.2020), Snapchat 2011 (https://www.telegraph.co.uk/technology/0/owns-snapchat-created/, Abrufdatum 20.01.2020). Natürlich gab es auch vorher schon Bearbeitungsprogramme, die gerade von professionellen FotografInnen genutzt wurden. Trotzdem würde ich argumentieren, dass bearbeitete Bilder nicht so selbstverständlich auch von AmateurInnen verbreitet und damit im Alltag nicht so bekannt waren.

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