„Ich war immer ein Sowjetbürger…“

Olga Vilman

Es war im Jahr 2011, als zum 70. Jahrestag der Deportation der Russlanddeutschen in den ehemaligen Siedlungszentren der Russlanddeutschen in Engels ein Denkmal eingeweiht wurde.

Bis zum Überfall Hitlers auf die Sowjetunion lebten die Deutschstämmigen im europäischen Teil des Landes, größtenteils in der Autonomen Republik der Wolgadeutschen. Von Stalin als Feind im eigenen Land gesehen, verfügte ein Erlass vom 28. August 1941 die Umsiedlung von fast einer Million sowjetischen Deutschen nach Sibirien, Kasachstan und  Zentralasien. Nach den Deportationen und mit dem Ende des Krieges war das Leid der Russlanddeutschen noch lange nicht beendet. Noch bis 1956 mussten sie in Sondersiedlungen unter der Kommandantur leben und erst im Jahr 1964 erfolgte die erste Rehabilitierung. Seit 1982 erinnern die Russlanddeutschen jedes Jahr am 28. August an die Zwangsumsiedlung 400.000 Wolgadeutscher sowie an die Opfer des totalitären Regimes.

Denkmal der Deportationsopfer 2011, Engels, Russland

Das Denkmal für die Opfer der Repressalien steht gegenüber dem Lenin-Platz in Engels, der ehemaligen Hauptstadt der Wolgadeutschen Republik. Der Entwurf für das Denkmal mit dem Arbeitstitel „Für die Wolgadeutschen“ stammt von dem Saratower Bildhauer Alexander Sadowskij. Für das Projekt hat die deutsche national-kulturelle Autonomie des Gebiets Saratow und der Internationale Verband der deutschen Kultur (IVDK) Spenden gesammelt: insgesamt drei Millionen Rubel (umgerechnet rund 75. 000 Euro). Das Geld für das Denkmal wurde von privaten Spendern aus Russland und Deutschland aufgebracht. Eine Stele aus Granit mit einem Mann, der ins Nirgendwo abreist. Das letzte Mal blickt er hoffnungslos auf ein verlassenes Haus und ein Teenager schaut ihm nach, der immer noch hoffnungsvoll die Arme ausstreckt. Mein Vater sah dieses neue Denkmal und sagte traurig: „70 Jahre sind keine lange Zeit für die Geschichte. Ich glaube nicht, dass dieses Denkmal für immer aktuell bleibt…“

Dass mein Vater Deutscher ist, habe ich 1986 von meiner Mutter erfahren. Mein Vater lebte allein. Ich trug einen russischen Nachnamen, und für mich kam diese Nachricht unerwartet. Ich war 16 Jahre alt, ich habe gerade den Pass eines Sowjet-Bürgers erhalten, in dem auch die Zeile „Staatsangehörigkeit“ stand, aber niemand im Pass Büro fragte mich, sondern man schrieb automatisch: „Russisch“. Meine Mutter sagte, dass mein Vater den deutschen Nachnamen Seelmann trug, dass seine Familie vor dem Krieg im Kanton Seelmann der Wolgadeutschen Republik lebte. Bis 1941 gab es 14 Kantone in der Wolgadeutschen Republik, und von 1918 bis 1941 war meine Heimatstadt Engels die Hauptstadt. Mein Großvater hieß Herbert Augustovich Seelmann, er war vor dem Krieg Leiter der Getreideversorgungsabteilung für die Wolgadeutsche Republik, sie trug den Namen „Nemzagotzerno“ – was schlicht hieß: „Getreidemanagement“.

Im August 1941 wurden durch einen Erlass Stalins über die Auflösung der Republikanischen Sozialistischen Partei der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik alle Sowjetdeutschen zu Volksfeinden erklärt. Mein Großvater wurde mit seiner Frau und zwei kleinen Söhnen im Alter von einem Jahr und drei Jahren von Engels nach Sibirien geschickt. Er kam ins Dorf Izykhskye Kopi, das damals im Gebiet Krasnojarsk lag, und zum Territorium der Autonomen Region Chakassien gehörte. Dort trennten sie die junge Familie, schickten meinen Großvater zur Arbeitsarmee und meine Großmutter Maria und zwei kleine Kinder blieben im Dorf zurück. Sie sahen sich nie wieder. Spätere Nachforschungen über meinen Großvater ergaben nichts; es gab keine Ergebnisse. Er sollte vermisst bleiben.

Nachdem Großmutter ihren geliebten Ehemann und ihren jüngsten Sohn an die Grippe verloren hatte, erkrankte sie schwer an der Basedow-Krankheit: einer Hyperthyreose oder Schilddrüsen-Überfunktion, möglicherweise aufgrund von Stress. Ein im Exil lebender deutscher Arzt entfernte ihr einen Teil der Schilddrüse. Und das nicht im Operationssaal eines Krankenhauses, sondern in einer einfachen Dorfhütte mit einem gewöhnlichen, geschärften Messer. Die Desinfektion erfolgte lediglich mit Spiritus und Feuer. Die Operation war erfolgreich, meine Großmutter wurde 84 Jahre alt, erzählte aber fast nie etwas über ihr Leben. Sie wollte sich kategorisch nicht daran erinnern. Auf Deutsch sprach die Familie nie wieder – aus Angst. In der Kindheit wurde mein Vater von einheimischen Kindern gemobbt. Sie nannten ihn: „Faschist“. Er rannte von zu Hause weg, aber ein paar Tage später kehrte er zu seiner Mutter zurück. Sie verstand ihn und hat nicht geschimpft.

1955, zwei Jahre nach Stalins Tod und der Schwächung des Kontrollsystems (Spezkomendatur) für Familienangehörige unterdrückter Deutscher, konnten meine Großmutter und mein Vater endlich aus ihrem Exil an die Wolga nach Engels zurückkehren. Ihr großes Privathaus in der Revolutionnaja Straße 35, war schon lange von Fremden besetzt. Deshalb ließ sich die Großmutter mit der Familie Ihres Bruders in einem winzigen Anbau nieder, dass circa 17 Quadratmeter einnahm; das entsprach ein Fünftel des alten elterlichen Holzhauses. Zwei Trennwände teilten den Raum in zwei kleine Durchgangsräume mit einer sehr kleinen Küche und separatem Eingang zum Innenhof. Vor den Fenstern lag ein Stückchen Land, ein „Minigarten“. Dort wuchsen ein bisschen Gemüse, ein paar Erdbeeren, ein Aprikosen- und ein Apfelbaum.

1957, im Alter von 18 Jahren, änderte Wjaceslaw Seelmann (offiziell, damals im KGB-Büro in Saratow), seinen deutschen Nachnamen in den russischen Geburtsnamen seiner Mutter, bevor er in die sowjetische Armee eintrat. Im Jahr 1958 diente er als Verbindungssoldat in Riga, Lettland und genoss während der Armeezeit hohes Ansehen. Eine ausgezeichnete Beurteilung des Kommandeurs gab ihm die Möglichkeit sich seinen alten Traum zu erfüllen: nach der Armeezeit begann er an der Uni, an der Fakultät für Geschichte, ein Studium. Nur aus diesem Grund änderte Vater seinen Namen und seine Deutsche Nationalität schließlich in seinen Dokumenten, sonst wäre er nicht an der Universität aufgenommen worden. Die Deutschen blieben dem Staat UdSSR auch nach dem Krieg noch lange Zeit verdächtig.

Armeezeitsfotos, 1958.
Die korrigierte Geburtsurkunde 1957 und Armeefotos 1958

Von 1962 bis 1967 war mein Vater Student an der Geschichtsfakultät der Staatlichen Universität Saratow. Jeden Sommer nahm er an einem Kurs über wissenschaftliche Expeditionen auf der Krim zu archäologischen Stätten teil, um nach antiken Artefakten zu suchen. Er widmete seine Diplomarbeit der Geschichte der Napoleonischen Kriege und konnte endlos über dieses Thema sprechen. Nach dem Studium versuchte er als Geschichtslehrer zu arbeiten. Da er sehr emotional war, war das für ihn nicht so einfach; – auch im Exil litt er unter Nervenzusammenbrüchen, in Konflikten konnte er sich nicht immer beherrschen, war oft impulsive. Aus diesem Grund ging sein Karriereweg schwer voran. Vater wechselte oft an verschiedene Schulen, arbeitete als Methodist und Historiker in Armenien. Anschließend unterrichtete er Geschichte an einem Moskauer Institut. Er trat der Kommunistischen Partei bei, seine Familie aber lebte in Engels. Als er beruflich angekommen zu sein schien, berichtete jemand 1975 dem KGB, mein Vater habe seine deutsche Nationalität und seinen richtigen Namen versteckt. Das galt in UdSSR als unmoralisch und eines Kommunisten unwürdig. Es gab einen Skandal. Er wurde aus dem Institut entlassen, aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und von Moskau in die Provinz in seine Heimatstadt Engels weggeschickt. Unterrichten war ihm von da an streng verboten.

Dann ging mein Vater in ein Betonwerk und arbeitete dort etwa 30 Jahre lang als einfacher Betonarbeiter. Mit 64 Jahren wurde er bei der Arbeit schwer an der rechten Hand verletzt. Die Betriebsleitung schickte ihn aus Angst vor dem Gericht schnell in die übliche Altersrente. Ohne Abfindung oder Schmerzensgeld. Als seine Tochter hoffte ich, wenn wir zusammen nach Deutschland kommen, würde mein Vater in Deutschland geheilt. 2004 kam mein Vater auf mein Verlangen zum Deutschtest im Kulturzentrum in Engels. Aber das hat nicht funktioniert. Vater kam mit einem roten Gesicht aus dem Büro des Prüfers und sagte aufgeregt, dass es wahrscheinlich überall Mikrofone zum Abhören von Sonderdiensten des FSB gebe. Deshalb erklärte er lautstark, er sei von ganzem Herzen Russe, und weigerte sich, nach Deutschland zu fahren. Der deutsche Beamte vom Konsulat schüttelte die Hand meines Vaters, verwirrt und mit Tränen in den Augen. Es schien so, dass die Prüfer einfühlsam waren, und Mitgefühl hatten, aber unter diesen Umständen nicht helfen konnten. Mein Vater wollte für immer in Russland bleiben. Er war immer ein „echter Sowjetbürger“, wie er gesagt hat.

2005 bekam er einen Job als Nachtwächter in Engels. Er hat dort acht Jahre gearbeitet. 2013 erlitt er einen Schlaganfall und war gelähmt. Bis zu seinem Tod im Jahr 2017 interessierte er sich für Geschichte, schalt Stalin und verteidigte Lenin, dessen 55 Bände er bis zur Perestroika in einem Schrank aufbewahrte und dann ins Altpapier gegeben hatte.

…Es war irgendwann in den späten 90ern, da zeigte mir mein Vater einen Brief: der Brief hatte eine Reise hinter sich. Er war von einer Frau abgeschickt worden, die in seiner Zeit in der Altai-Region, genau genommen in Barnaul seine Nachbarin war. Die Stadt Barnaul war der Ort, wo mein Vater und meine Großmutter einst das sibirische Exil verließen. Der eigentliche Absender des Briefs aber saß nicht in Barnaul, sondern in Deutschland: Es war sein Onkel – Edward Seelmann, der wie durch ein Wunder nach Deutschland ausgereist war. Edward hatte Kontakt zur letzten ihm bekannten Adresse der Familie in Russland aufgenommen, hoffte, sie in Barnaul zu finden. Die ehemalige Nachbarin wurde zum Mittler und schickte den Brief nach Engels weiter. Mein Vater hat diesen Brief jedoch nie beantwortet, denn er hatte Angst vor dem Geheimdienst und vor Provokationen. Später schrieb ich Edward Seelmann und schickte den Brief an die angegebene Adresse – aber ohne Erfolg. Auch eine Anfrage beim Deutschen Roten Kreuz blieb erfolglos: Weder konnten sie Edward Seelmann noch eine kurze Information über ihn finden. Aus der fast einhundertjährigen Geschichte der Familie Seelmann, die über viele Jahrzehnte sowjetisch geprägt wurde, sind nur wenige Fotos und Dokumente erhalten geblieben: eine Vatersgeburtsurkunde, sein Rehabilitationsbescheid und ein Eintrag im Gedächtnisbuch der unterdrückten: „Lozgatschev-Seelmann Wyacheslaw Herbertovich, geboren 1939. Urteil: aus ethnischen Gründen unterdrückt. Rehabilitiert: am 12. Mai 1997. Quelle: Informationszentrum der Verwaltung für innere Angelegenheiten der Region Saratow“.

Veröffentlichung des Fotos mit Erlaubnis des Besitzers

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