Tabea Thoele
Für eine historische Presseschau hatten wir Anfang Mai unsere Recherche zum Abzug sowjetischer Truppen aus der DDR gestartet. Kann ja nicht so schwer sein, dazu ein bisschen online content abzugreifen – oder doch?
Während ich die ersten gängigen Zeitungen, die damals zum Abzug sowjetischer Soldaten publiziert haben, über Google abfrage, wird schnell klar: Internationale Presse sowie deutsche, überregional ausgerichtete Medien haben die Thematik eingehend gewürdigt. Da wir jedoch auch schauen möchten, wie der Abzug in lokalen deutschen Zeitungen verhandelt wurde, weiten wir die Recherche aus. Wie wurde der Abzug sowjetischer Truppen beispielsweise im Harz aufgefasst?
Denn: Der Brocken diente ab 1961 als Abhörstation des KGB sowie des sowjetischen Militärgeheimdienstes GRU. Über die dort stationierte Abhöranlage “Urian” wurden vom Brocken aus Informationen über Militärbewegungen und die voranschreitende Aufrüstung in Westdeutschland eingeholt. Erst als die Mauer auf dem Brocken am 3. Dezember 1989 fiel, wurde der höchste Gipfel des Mittelgebirges wieder für die Zivilbevölkerung zugänglich.
Die 1994 publizierten Beiträge, die den Abzug sowjetischer Truppen in überregionalen oder internationalen Medien behandeln sowie die Anzahl der Einträge bei Google oder in gängigen universitären Datenbanken sind überschaubar. Während auch in der Bibliothek gesichtete Mikrofilme interessantes Material aus der „Welt am Sonntag“ von 1994 enthalten, gibt es jedoch auch hier keine lokale Berichterstattung. Fündig werde ich tatsächlich bei der „Neuen Wernigeröder Zeitung“ (NWZ).
Die NWZ veröffentlichte 1994 zahlreiche Artikel zum Abzug sowjetischer Truppen vom Brocken. Ich greife also old-school zum Telefon, stelle der NWZ unser Projekt vor und bekomme nach wenigen Tagen per Post einen Stapel von Zeitungsausgaben aus dem Jahr 1994 zugeschickt. Neben den nach tradierten Mustern argumentierenden Berichterstattungen der überregionalen und internationalen Medien zum Abzug überrascht die NWZ mit einer spannenden Mikroperspektive – minutiös wird hier der Abschied der letzten sowjetischen Soldaten protokolliert. Ein Auszug:
Grenzöffnung am Brocken: alles stürmte los
“‘Meine Damen und Herren von der Presse’, sprach ein netter Herr vom Bundesvermögensamt, ‘haben Sie Verständnis, daß Sie bei den Übergabegesprächen nicht dabei sein konnten. Jetzt steht Ihnen das Gelände offen – auf eigene Verantwortung.’ Alles stürmte los. Da stand plötzlich eine Dame mit ausgebreiteten Armen wie ein Verkehrspolizist im Gewühl. Ihr energisches ‘Halt!’ wurde aber kaum noch beachtet. Ehe sie in Aktion treten konnte, vermutlich zur Kontrolle der Presseausweise, waren die schnellsten schon mitten im ehemaligen GUS-Gelände. Während fixe Journalisten das letzte Schild “graniza-posta” (Grenzbereich) abmontierten, wurde am Eingang das erste deutsche Schild angeschraubt: “Betreten verboten”.
Reingezoomt auf die Mikroperspektive kann man hier nahezu mitfühlen, wie es gewesen sein muss, als nun das letzte “graniza-posta” Schild abmontiert wurde: Ende Gelände.
Mal eben was googeln? Auch Ende Gelände. Trotz scheinbar endloser Treffer, die man über digitale Suchmaschinen und Datenbanken erzielen kann, lohnt es sich, Archive anzuschauen, Redaktionen anzurufen und Print-Ausgaben durchzuarbeiten. Neben der Recherche erfolgt durch die Aufarbeitung von historischen Print-Quellen für die Öffentlichkeit eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir in einer zunehmend digital verdichteten Infrastruktur in Zukunft mit Material umgehen, das bislang nicht digitalisiert ist.
Literatur:
Urmersbach, Viktoria (2009): Der Brocken – Hochsicherheitstrakt der DDR. In: NDR: https://www.ndr.de/geschichte/schauplaetze/Brocken-war-einst-Hochsicherheitstrakt-der-DDR,brocken114.html
W.M. (1994): Stumme Reden nach dem Abschied. In: Neue Wernigeröder Zeitung, 20. April 1994, 5. Jahrgang Nr. 8, S. 4