Lea Pörtner
Fotos erinnern uns an (meist) schöne Ereignisse im Leben – den Urlaub, die Hochzeit, den Geburtstag. Auf solchen Bildern ist oft gleich zu erkennen, wie was passiert und in welchem Kontext sie entstanden sind. Bei anderen nicht – bei ihnen braucht man die Hintergrundgeschichte, um sie zu verstehen. Genauso wie bei diesem Bild:
Was ist darauf zu erkennen? Zwei Männer, die auf der Erde liegen. Außerdem scheint das Foto sehr alt zu sein. Und wirklich interessant wirkt es zunächst auch nicht…
Es passiert schnell, dass wir ein Foto nicht interessant beziehungsweise langweilig finden, weil es zunächst nicht sehr spektakulär aussieht. Aber etwas MUSS an diesem Bild ja interessant sein, da es seit circa 100 Jahren im Besitz einer Familie ist und bewahrt wird.
Und hier kommt der (geschichtliche) Kontext mit ins Spiel: Erst mit dem notwendigen Hintergrundwissen werden „langweilige“ Bilder interessant, vielleicht sogar interessanter als vermeintliche „Eyecatcher“.
Dies könnte man hier auch behaupten, denn dieses Foto zeigt nicht nur eine Familiengeschichte. Vielmehr umfasst es auch eines der dunkelsten Kapitel der Sowjetunion.
Der Mann, der links auf dem Foto zu sehen ist, verschwand eines Tages urplötzlich. Niemand im ganzen Dorf wusste, wo er hingegangen ist oder was passiert war. Alle hofften auf eine Rückkehr des Verschwundenen, aber dazu sollte es nicht kommen. Die Familie wuchs weiter an und sehr bald entstand eine Generation, die ihn, den Großvater dann schon, beispielsweise nie kennengelernt hatte. Dennoch hofften viele, dass er möglicherweise doch eines Tages nach Hause kommen würde.
Aus dieser Hoffnung heraus wurden in der ganzen Familie Fotos des Vermissten verteilt mit den Worten, dass dies ihr Großvater oder teils schon Urgroßvater sei und wenn er jemals zurückkommen sollte, dann sollten sie ihn aufnehmen und pflegen. Aber der Mann auf dem Foto kam nie wieder zurück.
Erst Jahrzehnte später, im Zuge von Glasnost und Perestroika, wurden in der Rayonszeitung, dort wo die Familie damals lebte, über Monate hinweg Listen mit Namen veröffentlicht. Diese Namen waren die Namen der Verstorbenen, die Opfer der stalinistischen Säuberungen oder Opfer ähnlicher „Umstände“ wurden und deren Familien nie Nachricht über den Verbleib ihres Angehörigen bekamen. Somit auch in diesem Fall. Erst Jahrzehnte später wurden die Mutmaßungen der Familie gewiss.
Somit ist dieses Foto ein Stück russlanddeutsche Familiengeschichte und genauso ein Teil der Geschichte des Großen Terrors.
Veröffentlichung des Fotos mit Erlaubnis des Besitzers